Achim Brosziewski

 
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Prof. Dr. Achim Brosziewski
Soziologe und Bildungsforscher
an der Pädagogischen Hochschule Thurgau

Themen: Bildung, Lernen, Medien, Organisation und Kommunikation

 
 
 

Zufall soziologisch betrachtet

I. Die Gabe des Zufalls

Ob es den Zufall wirklich gibt, weiss ich nicht. Es interessiert mich auch nicht. Zufällig habe ich mitbekommen, dass die Philosophie über die Bedeutung des Zufalls streitet, seit mit Newton das Universum als eine Art „Mechanik“ betrachtet werden kann, als eine grosse, ja unendliche Maschine, in der ein Rädchen ins andere greift und angeblich „alles“ hervorbringt, was uns Menschen als Welt erscheint. Verteidiger und Kritiker dieser Weltsicht haben ihren Streit auf die Formel des „Determinismus“ gebracht. Die einen sagen, der Weltenlauf liege fest. Er sei durch das Zusammenwirken von Ursachen determiniert. Nur kennen wir noch nicht alle Ursachen und noch nicht alle ihre Wirkungsmechanismen. Aber das sei nur eine Frage der Zeit und der Verbesserung unserer Beobachtungsinstrumente. Die anderen suchen im Protest gegen diesen Maschinenkomplex nach der Freiheit des Menschen, nach der Verantwortung für sein Handeln und nach der Urteilskraft, die der Freiheit eine vernünftige Richtung verleiht.

Das alles hat ein Biophysiker und Hirnforscher, Donald MacCrimmon MacKay, einer wissenschaftlichen, speziell einer informationstheoretischen Analyse unterzogen (MacKay, Donald M. (1969). Information, Mechanism and Meaning. Cambridge MA: M.I.T. Press). Er gelangt zu dem Ergebnis: Es ist völlig gleichgültig, ob die Welt „in Wirklichkeit“ determiniert sei oder nicht. Jeder Mechanismus, der ein Verhalten steuern soll – das kann ein Gehirn sein oder auch ein Automat – muss in sich selbst einen Schaltkreis vorfinden, der Unsicherheit, Ungenauigkeit und Unvorhersehbarkeit verkraften kann. Nur solch ein Schaltkreis erlaubt es ihm, überhaupt auf Information zu reagieren. Oder auf menschliches Verhalten bezogen: Ich muss annehmen, dass mein Gegenüber durch den Weltenverlauf (einschliesslich seiner Gehirnaktivitäten) noch nicht festgelegt ist. Sonst könnte ich ja gar keine Chance sehen, ihn durch mein eigenes Verhalten zu beeinflussen.

Wem nicht vor Logeleien graut, der kann erkennen, dass dieses Argument auch für den Streit zwischen Deterministen und Freiheitsphilosophen selber gilt. Der Determinist sagt: Die Welt ist durch Ursachen und Wirkungen vollständig determiniert. Die Idee von Freiheit ist eine Illusion. Doch wenn die Behauptung wirklich richtig ist: Wozu dient es dann, dass sie ausgesprochen wird? Der einzig mögliche Zweck ist, den Freiheitsphilosophen von seiner Illusion zu befreien, ihn auf seinen Irrtum hinzuweisen und ihn zur Einsicht in die richtige Weltsicht zu führen. Der Determinist, der seine Wahrheit ausspricht, muss glauben, dass er den anderen beeinflussen kann. Aber wie kann er das, wenn er meint, auch die Illusion seines Gegenüber sei auf deterministischem Wege zustande gekommen? Er muss dem Freiheitsphilosophen die Freiheit zugestehen, entweder in seinem Irrtum zu verharren oder aber in sich selbst (!) die Wahrheit entdecken zu können. Das können wir verallgemeinern: Jeder der redet, schreibt, druckt oder funkt, muss annehmen, dass es irgendwo in der Welt, in irgendeinem Gehirn, Bewusstsein oder Automaten einen Schaltkreis gibt, der in seinen Ergebnissen noch nicht durch die Ursachenkonstellationen des Universums fixiert ist. Sonst gäbe sein Reden, Schreiben und Funken keinen Sinn. Für Kommunikation ist es völlig gleichgültig, ob das Universum determiniert ist oder ob es den Zufall „wirklich gibt“. Kommunikation lebt von der Unterstellung der Beeinflussbarkeit; was gleichbedeutend ist mit Unbestimmtheit, Unsicherheit und der Akzeptanz von Zufälligkeiten. Wäre alles bestimmt und determiniert, gäbe es nichts zu sagen.

Es ist dieser Zusammenhang von Kommunikation, Unsicherheit und Information, der auch die Soziologie berechtigt, ihre ganz eigenen Beobachtungen zum Zufall anzustellen und mitzuteilen, was aus ihrer Sicht vom Zufall zu halten ist. Die Streitereien um Existenzbeweise können der Philosophie überlassen bleiben. Denn immer wenn sie streitet, beweist sie uns, dass Kommunikation den Zufall nötig hat  – egal, ob es sich dabei um Illusionen handelt oder nicht. Oder auf das Kürzeste zusammengefasst: Der Zufall ist, sozial gesehen, eine notwendige Illusion.

 

II. Die Schuldigkeit des Zufalls

Im Alltag wird zuweilen gesagt, der Zufall sei „schuld“ an einem Geschehen; oder, wenn man sich glücklich schätzen möchte, man „verdanke“ irgendetwas Schönes dem Zufall. Wenn so gesprochen wird, geht es meistens um die Erklärung von Erfolg und Misserfolg. Erfolge möchte man gerne sich selber, Misserfolge lieber den Umständen zurechnen. Natürlich gibt es auch die feinsinnigeren Versionen, zum Beispiel die Bescheidenheit. Wenn andere einen besonders loben, dann weist man höflich darauf hin, dass man den Erfolg nicht allein seinen eigenen Kräften und Fertigkeiten, sondern eben auch dem Mitwirken von günstigen Umständen, vor allem von hilfreichen Menschen zu verdanken habe. Oder bei Misserfolg: Man übernimmt Verantwortung für den Schaden, selbst wenn man die Fehler gar nicht unter eigener Kontrolle hatte. Auch in diesem Hin-und-Her-Schieben darüber, wie Erfolge und Misserfolge zustande kommen, übernimmt der Zufall eine Rolle als „Ursache“ – nur wird der Zufall nicht wie bei den Philosophen zur Erklärung des Universums herangezogen. Er dient lediglich zur Kommunikation darüber, wie Lob und Tadel auf welche Personen zu verteilen sind. Es geht um moralische Urteile. Und der Zufall nimmt dem Urteil etwas von seiner Härte: Der Schuldige ist nicht zu einhundert Prozent schuldig. „Es ist ihm einfach so passiert“.

Die Soziologie hält sich auch aus den Zufallsspielen des moralischen Urteilens heraus. Erfolge und Misserfolge gehören für sie zu den „facts of life“, die immer anfallen, wenn Ansprüche geäussert werden und sich damit dem Risiko der Enttäuschung aussetzen. Ob „jemand“ oder „der Zufall“ den Erfolg oder den Misserfolg verursacht habe, muss wie alles andere auch kommunikativ bestimmt werden. Die Soziologie fragt nicht nach dem Zufall als „Ursache“, wenn kein Held oder kein Schuldiger gefunden werden kann.

 

III. Der Zufall als Schattenspieler der Planung

Die Soziologie unterscheidet den Zufall vom Plan und sagt: Zufälle kommen nur ins Spiel (dann aber auch immer), wenn geplant wird. Ohne Pläne keine Zufälle, ohne Absichten keine Unfälle. Je mehr geplant wird und je akribischer geplant wird, umso mehr Zufälle treten in die (soziale) Welt. Können die Pläne wie geplant abgewickelt werden, kann man zufrieden sein, sich selbst und seiner Gefolgschaft den Erfolg zurechnen und zu anderem übergehen. Scheitern die Pläne, dann wird die Welt gespalten mit der Frage: War es Unglück oder hätte die Planung die Umstände des Scheiterns vorhersehen müssen? Die Soziologie der Zufälle ist dieselbe wie eine Soziologie der Pläne.

Für die Kopplung von Zufall und Plan bietet die Weltgeschichte zwei grosse Beispiele an. Das pädagogisch einflussreichste ist Clausewitz’ Abhandlung „Vom Kriege“, die allen Feldherren in spe das Spekulative ihrer Schlachtpläne vor Augen führt: „Der Krieg ist das Gebiet des Zufalls. In keiner menschlichen Tätigkeit muß diesem Fremdling ein solcher Spielraum gelassen werden, weil keine so nach allen Seiten hin in beständigem Kontakt mit ihm ist. Er vermehrt die Ungewißheit aller Umstände und stört den Gang der Ereignisse. Jene Unsicherheit aller Nachrichten und Voraussetzungen, diese beständigen Einmischungen des Zufalls machen, daß der Handelnde im Kriege die Dinge unaufhörlich anders findet, als er sie erwartet hatte, und es kann nicht fehlen, daß dies auf seinen Plan oder wenigstens auf die diesem Plane zugehörigen Vorstellungen Einfluß hat." (Clausewitz, Carl von (1905). Vom Kriege. Fünfte durchgesehene Auflage. Berlin: Ferd. Dümmler, S. 38)

Als zweites Beispiel kann der gigantische Versuch angesehen werden, durch zentralistische Wirtschaftspläne für ganze Volkswirtschaften (UdSSR, DDR und weitere realsozialistische Staaten) die Zufälligkeiten von Transaktionen für lange Jahre im Vorhinein komplett auszuschalten. Nicht nur musste die Illusion der Planbarkeit durch einen gewaltigen und oft auch gewaltsamen Unterdrückungsapparat aufrechterhalten werden. Viel grundsätzlicher noch, die Planung und die Planer wurden durch die Unterdrückung selber blind für die Umstände, unter denen Wirtschaften tatsächlich gelingen kann. Sie beraubten sich und allen Betroffenen der Möglichkeit, aus Gelegenheiten und auch aus gelegentlichen Schwierigkeiten heraus zu lernen.

Wer die Beispiele kleiner und alltagsnäher haben möchte, der mag an Reisepläne, an Urlaubspläne, an Tagespläne, an Stundenpläne oder auch an Lehrpläne denken. Was man auf Reisen und im Urlaub erlebt, was ein Tag oder eine Schulstunde bringt, welche Lerngelegenheiten sich unter dem offiziellen Lehrplan tatsächlich ergeben – all das steht nicht im Plan, kommt überraschend zustande und sieht, vom Plan aus gesehen, wie zufällig aus. Dafür bietet all das Zufällige den Stoff, aus dem Geschichten und, aufs Ganze gesehen, auch die Welt- und Lebensgeschichten zu stricken sind. Gleichwohl muss man sich vor der Falle hüten, nun seinerseits den Zufall zu loben und den Plan zu tadeln; und sei es durch schadenfrohe Geschichten vom Scheitern der Pläne. Ohne Pläne gäbe es auch keine Zufälle, wie ohne Regeln keine Spontaneität, ohne Disziplin keine Freiheit. Das moderne Leben würde ohne Pläne schon in der nächsten Sekunde zusammenbrechen. Man könnte nicht einmal mehr das Haus verlassen. Erstens wüsste man gar nicht wohin (ein Ziel wäre ein Plan). Zweitens kurvten sämtliche Fahrzeuglenker dieser Welt nur noch planlos umher. Drittens träfe man ohne die Stunden-, Tages-, Wochen-, Monats- und Jahrespläne von Arbeitsorganisationen niemanden mehr an, in den Verkaufsläden nicht, an der Tankstelle nicht, im Krankenhaus nicht, in der Schule nicht.

Nur in der kosmologischen Philosophie und im moralischen Streit kann man sich entweder für den Plan oder für den Zufall entscheiden. Im richtigen Leben muss man auf ihre vertrackte Geschwisterlichkeit gefasst sein; darauf, dass das Eine nie ohne das Andere zu haben ist. Die Vermehrung der Pläne vermehrt die Zufälligkeiten. Die Vermehrung der Zufälle ruft – vor allem, wenn sie sich als Unfälle zeigen – nach besseren Plänen. In dieser Lage kann die Frage nur sein, wie Pläne auf die von ihnen erzeugten Zufälle reagieren können. Die sogenannte „rollende Planung“ beansprucht dies immerhin. Radikaler aber wäre, den Plänen die Gleichwertigkeit des Zufalls beizubringen und sie mit ihrer eigenen Zufälligkeit, nämlich mit den Zufälligkeiten des Planens zu versöhnen. Es ginge dann nicht mehr um Ursache und Wirkung, um richtig und falsch, um fähig und unfähig, um gut und böse, sondern schlicht um Aufmerksamkeit für Gelegenheiten und Ungelegenheiten.