ThomAs Hermann

 
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Prof. Dr. Thomas Hermann
Zum Zeitpunkt der Publikation:
Leiter Medien- und Didaktikzentrum 
Dozent Medien und Informatik 
Leiter Fachbereich Medien und Informatik
Pädagogische Hochschule Thurgau

 
 
 

Wörterbuch des Zufalls: Versuch über einen lexikalischen Einzelgänger

Im Deutschen gibt es nur ein Wort für ein unvorhergesehenes Ereignis und dieses ist zuhinterst im Alphabet angesiedelt: der «Zufall». Dem will ich etwas auf den Grund gehen, indem ich den deutschen Einzelgänger mit seinen englischen Verwandten vergleiche, von denen es eine Menge gibt: von accident über chance und coincidence bis hin zu haphazard, happenstance, fortuity, fluke, random oder dem märchenhaften serendipity.

Ich gehe das Thema essayistisch an, allerdings nicht nach starrem Cambridge-Proficiency-Muster: «Vorstellen des Themas ... Argumente pro ... Argumente contra ... Schlussfolgerung». Vielmehr schwebt mir der Versuch eines Essays vor, wie ihn das japanische zuihitsu umschreibt. Ich kann kein Japanisch, bin aber kürzlich in der Buchhandlung Barth im Zürcher Hauptbahnhof zufällig auf das neu erschienene Büchlein Versuch über die japanische Ästhetik von Donald Richie (2020) gestossen. Richie definiert zuihitsu so: «ein Essay, der sich relativ formlos entfaltet; hitsu bedeutet ‹Pinsel›, und zui meint ‹folgend› oder ‹verfolgend›; deshalb wörtlich ‹dem Pinsel folgend›» (ebd., S. 100). Mir gefällt die Idee, dass die Gedanken dem Pinsel oder in meinem Fall der Tastatur folgen und dass nicht umgekehrt die Tastatur das zu Papier bringt, was im Kopf schon vorgefertigt ist. Damit räume ich dem Unvorhergesehenen einen Platz ein, dem was mir schreibend zufällt, womit der Zufall im Text seine Chance bekommt.

Lexikalische Masseneinwanderungen im Englischen

Sprachen spiegeln das Schicksal ihrer Sprachgemeinschaften wider. Ihr Wortschatz entwickelt sich entlang der Gesetzmässigkeiten und Zufälle von Migration, Krieg, Eroberung, Kommunikationsökonomie, Charakter und Mode. Trotz Insellage haben die Engländer immer eine liberale lexikalische Einwanderungspolitik betrieben. Als Eroberte haben sie von den Römern das halbe Latein übernommen und später von den Normannen das Französische. Als Kolonialisten trugen sie nicht nur zur weltweiten Verbreitung des Englischen bei, sondern ergänzten ihr Vokabular durch zahlreiche Wörter der kolonialisierten Völker. Der Anglist Manfred Scheler schätzt in Der englische Wortschatz (1977) dessen Lehnwortanteil auf 70%. Er fragt sich, ob das «Englische angesichts der Überfremdung seines Wortschatzes durch rom.-lat. Elemente überhaupt noch als germ. Sprache bezeichnet werden» könne (ebd. S. 74). Ähnlich drücken es Leisi und Mair aus: «Die Geschichte des englischen Wortschatzes ist gekennzeichnet durch einen unablässigen Zustrom von fremden Wörtern aus den verschiedensten Quellen» (1998, S. 41). Dieses Phänomen verleitete Kurt Tucholsky zur Aussage, das Englische sei eine «einfache, aber schwere Sprache», die aus «lauter Fremdwörtern [besteht], die falsch ausgesprochen werden» (Böhm und Pfeiffer 2019, S. 213). Wir nehmen zur Kenntnis, dass deutsche Anglisten und Autoren die Überfremdung des englischen Lexikons betonen und fragen uns, wie es ihre Landsleute denn so mit Wortmigrantinnen im Deutschen halten.

Einreisebeschränkungen im Deutschen

Tatsächlich hat auch das Deutsche von den Römern geerbt und dem frankophonen Preussenkönig Friedrich II. verdanken wir den Cousin oder die Toilette. Doch besonders stolz auf die Importe war man nie. Im Gegenteil, man wollte den Zuzug eher beschränken, um die Sprache vor fremden Einflüssen zu schützen und ereiferte sich regelmässig über Eindringlinge. Seit das Englische nach dem Zweiten Weltkrieg zum Siegeszug ansetzte, hat das Klagen über die Anglizismen in der deutschen Sprache kein Ende. Aktuell lamentiert Andreas Hock mit einer Prise bemühten Humors in seinem im Duden-Verlag erschienen Buch: I Think I Spider: Vom Sinn und Unsinn des Englischen im Deutschen (2019). Darin zieht er gegen die «denglischen Worthülsen und sinnbefreiten Reklamebotschaften» zu Felde und wirbt für die eigene Sprache, «denn sie bietet doch so viele Möglichkeiten, sich würdevoll auszudrücken» (ebd., S. 11). Er trauert etwa den «fantasievollere[n] deutsche[n] Flüche[n] wie ‹Donnerwetter›, ‹Manometer›» nach, die er von den «einfallslosen Unmutsbekundungen Shit und Fuck» verdrängt sieht (ebd., S. 24).

Wortschatzschätzungen

Das Englische ist also offen für fremde Wörter und das Deutsche eher abwehrend. Das zeigt sich beispielhaft am deutschen Einzelgänger Zufall und seinen zahlreichen englischen Entsprechungen. Das lässt die Vermutung zu, dass der englische Wortschatz grösser ist als der deutsche. Sucht man verlässliche Angaben zum Umfang eines Wortschatzes, so findet man im Englischen wie im Deutschen Zahlen, die um mehrere Hunderttausend voneinander abweichen. Tatsächlich ist das quantitative Bestimmen eines Wortschatzes nicht so einfach. Soll ein Wort, das mehrere Bedeutungen hat, wie z.B. «Bank», ein- oder mehrmals gezählt werden? Und was ist mit all den Komposita, den obsoleten Wörtern, Fremdwörtern, Fachwörtern, Dialektausdrücken usw.?

Lexico (ein Gemeinschaftsprojekt von Oxford University Press und Dictionary.com) antwortet für das Englische folgendermassen: Ohne Fachsprachen, regionale Varianten und Flexionen dürfte der englische Wortschatz eine Viertelmillion Wörter betragen. Werden die verschiedenen Bedeutungen mitgezählt, verdreifacht sich die Zahl, womit man bei ca. 750'000 Wörtern landet. Für das Deutsche listet das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS) 465'000 Wörter aus verschiedenen Wörterbüchern. Vorteil fürs Englische? So sieht es aus, und so gibt Bestsellerautor Andreas Hock klein bei: «Es mag eine schmerzliche Erkenntnis sein, aber offenbar unterhält man sich auf Englisch vielseitiger als auf Deutsch» (Hock 2019, S. 14).

Wortkünstler im Zufallstest

Treffen statt der Wörterbücher die Wortkünstler aufeinander, dann deklassiert der wortgewaltige Goethe mit 93'000 verschiedenen Wörter den englischen Nationaldichter deutlich. Shakespeare kommt auf 30'000, was auch nicht wenig ist (zum Vergleich: Luther 23'000, Schiller ca. 30'000). Okay, Goethe hat sich neben der Schriftstellerei als Philosoph, Wissenschaftler und Reisebuchautor diverser Fachsprachen bedient, während Shakespeare «nur» 38 Dramen und 150 Gedichte in wesentlich kürzerer Lebenszeit verfasst hat. So wundert es nicht, dass Shakespeares Wörterwelten etwa auf Shakespeare’s Words online bereits vollständig durchstöbert werden können, während das Goethe-Wörterbuch in der Online-Ausgabe erst beim Buchstaben «M» angelangt ist und sich der Zufall noch etwas gedulden muss. Dank der Online-Bibliothek Projekt-Gutenberg können wir aber einzelne Werke systematisch nach dem Zufall durchsuchen. Dort sehen wir: Goethe braucht in den Wahlverwandtschaften den «Zufall» sieben Mal, die «Zufälligkeit» zweimal und das Adjektiv «zufällig» (mit allen Flexionen und inkl. «zufälligerweise») 18 Mal.

Shakespeare verwendet drei Ausdrücke für den Zufall in seinem Gesamtwerk. Am häufigsten kommt dabei die Wendung «by chance» vor (15 Mal), je fünfmal finden sich «accidental», «by accident» und «at random».

Schicksalssinfonie: Blick in ein Wortfeld

Das Wort «Zufall» ist in seiner jetzigen Bedeutung als «unerwartetes, unvorhergesehenes Ereignis» seit dem 17. Jahrhundert geläufig. Im früheren Sprachgebrauch wurde es unter anderem für das Erbe, also für den jemandem zufallenden Besitz gebraucht, ebenso wie für die Parteinahme, den Beistand oder Beifall (vgl. DWDS). Der Zufall ist die deutsche Entsprechung für das lateinische accidēns, was für das unglückliche und das unerwartete Ereignis steht, für den Unfall wie für den Zufall also. Diese Doppelbedeutung, die im Deutschen durch unterschiedliche Vorsilben (Un- bzw. Zu-) vermieden wird, ist dem englischen accident heute noch inne. Deshalb funktioniert ein so eleganter wie abgedroschener Slogan «Unfälle sind keine Zufälle» nur auf Deutsch.

Wollen wir einen tiefen Blick in die Seele des deutschen Wortschatzes werfen, dann suchen wir im DWDS nach Synonymen für den «Zufall». Was wir finden ist eine Schicksalssinfonie, denn alle Wörter heben sich in einem entscheidenden Punkt vom Zufall ab: Der «Bestimmung», dem «Fatum», der «Fügung», dem «Geschick», dem «Karma» (buddh.), dem «Kismet» (islam.), dem «Los», der «Prädestination», dem «Schicksal», der «Schickung», der «Vorbestimmung», der «Vorherbestimmung» und der «Vorhersehung» ist die Steuerung durch eine übergeordnete Macht eigen. Einzig das «Los» rückt in die Nähe des Zufalls, doch gehört dieses in die Kategorie der Zufälle, die in Esther Brunners Worten durch die Mathematik «gezähmt» worden sind (Brunner, o.D.): Beim «Los» unterliegt die Trefferquote nicht dem Zufall, sondern den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit. Auch die «Beliebigkeit» liebäugelt mit dem Zufall, doch setzt sie ein Subjekt voraus, das den Zufall nach Lust und Laune bedient. Das «Geratewohl» verlässt sich mangels besseren Wissens aufs gute Glück. «Glück» (im Sinne des englischen luck) ist ein ernstzunehmender Konkurrent ebenso wie sein Gegenpart, das «Pech», doch geht diesen beiden Wörtern das Wertfreie des Zufalls ab. Ausserdem kann «Glück» auch happiness bedeuten, den Zustand also, den wir alle anstreben, ohne ihn vom Zufall abhängig machen zu wollen. Wir bleiben dabei, so richtig zufällig ist nur der Zufall. Abbildung 1 zeigt, wie der Zufall im Deutschen gegenüber dem Schicksal und vor allem gegenüber der Fügung eine Nebenrolle spielte. Besonders zu Zeiten des Ersten und Zweiten Weltkriegs wurde der Zufall praktisch aus dem Wortschatz verbannt, während die Fügung und das Schicksal nach Kräften walteten.

Abb. 1: Häufigkeit von «Zufall», «Schicksal», «Fügung» von 1800 bis 2008 gemäss Google Books Ngram Viewer

Wahlfreiheit im Englischen

Das ist im Englischen anders. Dort tummeln sich die Zufallssynonyme lässig, austauschbar und beliebig in geschriebenen und gesprochenen Textsorten. Ob by chance, accidentally, coincidentally oder at random: Ihr Auftreten im Text erfolgt nach Belieben der Schreiberin oder des Sprechers und meint immer dasselbe. Klar wohnt im englischen chance ein Rest des französischen «Glücks» (während die «Chance» im Deutschen eine Gelegenheit markiert), im accident lauert wie oben erwähnt der Unfall und die coincidence meint eine Übereinstimmung. In random schwingt noch ein Hauch des unvorsichtig rasenden Hasardeurs aus dem französischen Mittelalter mit. Der Begriff ist mittlerweile im wissenschaftlichen Kontext worden: In Versuchsanordnungen werden Probanden zu Versuchs- und Kontrollgruppen «randomisiert», also zufällig zugeteilt. Zudem hat sich das Wort in der Jugendsprache für Beliebiges, Zufälliges, Unberechenbares oder Sinnloses etabliert: Betrunkenes Lallen beispielsweise wird als «voll random» bezeichnet.

Am Beispiel des Zufalls im englischen Wortschatz lässt sich auch aufzeigen, wie sich dieser ständig erweitert hat. So ist das eher in Nordamerika gebräuchliche happenstance (eine Verbindung von happen und circumstance) erst seit Ende des 19. Jahrhunderts nachgewiesen – ein Grund, weshalb man es bei Shakespeare vergebens sucht, ebenso wie die serendipity, die Horace Walpole im 18. Jahrhundert geprägt hat. In Anlehnung an ein persisches Märchen münzte er die serendipity für eine zufällig gemachte Entdeckung, wie Columbus’ Entdeckung von Amerika. Hier gibt es also eine semantische Differenzierung des Zufalls.

Suchen wir statt des Zufalls nach Wörtern für astrologische oder göttliche Fügungen so hält auch das Englische dafür ein weites Wortfeld bereit. Zu fate (Schicksal) listet Lexico gut 20 Alternativen, von destiny über astral influence und providence bis hin zu Dame Fortune.

Anderes als im Deutschen verteilen sich «Zufall» und «Schicksal» aber gleichmässiger im Sprachgebrauch. Abbildung 2 zeigt, wie nahe die Häufigkeiten von by chance, accidental, coincidence und destiny liegen. Imposant ist der kontinuierliche Fall von fate, während random ab 1920 zu einer rasanten Karriere ansetzt und die gesamte Konkurrenz überholt.

Abb. 2: Häufigkeit von by chance, fate, accidental, coincidence, destiny und random von 1800 bis 2008 gemäss Google Books Ngram Viewer

Der Zufall, ein zuverlässiger Einzelgänger

Sowohl der Zufall wie das Schicksal erfreuen sich im englischen Wortschatz eines grossen Freundeskreises, wobei die Zufallssynonyme in den letzten Jahrhunderten kräftiger zugelegt haben als diejenigen des Schicksals. Kein Wunder, denn eine aufgeklärte, säkularisierte Gesellschaft traut dem Zufall mehr zu als dem Schicksal. Demgegenüber scheint der deutsche Wortschatz trotz Aufklärung, Moderne und Postmoderne weiterhin an höhere Mächte zu glauben, wie Abbildung 1 nahelegt. Der Physiker und Sachbuchautor Stefan Klein hat ein Buch mit dem Titel «Alles Zufall: Die Kraft, die unser Leben bestimmt» (2004a) geschrieben. In einem Interview dazu sagte er, dass die Menschen ein «ganz starkes Bedürfnis [haben], überall nach Regeln und höheren Plänen zu suchen» (2004b o.S.). Das mag ein universelles Phänomen sein, aber es scheint, als hege das Deutsche gegenüber dem Zufall grössere Vorbehalte als das Englische. Der Zufall bleibt im Deutschen ein unterschätzter Einzelgänger, der sich von seinen gottergebenen Verwandten abgrenzt und seine Nebenrolle mit Würde wahrnimmt. Zuverlässig und erwartungsgemäss tritt er auf, wenn Unerwartetes eintrifft und die Verlässlichkeit einen Aussetzer hat.

Literatur

Boehm, Thomas und Carsten Pfeiffer (Hrsg.). 2019. Die Wunderkammer der deutschen Sprache: Ein Füllhorn. Berlin: Verlag Das Kulturelle Gedächtnis.

Brunner, Esther. o.D. «Zufall mathematisch betrachtet: Mathematisch ist der Zufall ‹gebändigt› – oder von der Kalkulierbarkeit des Zufalls». In: Anderegg, Urs, Max, der Zufallsphilosoph. https://www.zufallsphilosoph.ch/

Hock, Alexander. 2019. I Think I Spider: Vom Sinn und Unsinn des Englischen im Deutschen. Berlin: Duden.

Leisi, Ernst & Christian Mair. 1998, 9. Auflage. Das heutige Englisch: Wesenszüge und Probleme. Heidelberg: Universitätsverlag Winter.

Klein, Stefan. 2004a. Alles Zufall: Die Kraft, die unser Leben bestimmt. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt.

Klein, Stefan. 2004b. «Zufall als Chance». Ein Gespräch mit Brigitte. https://www.stefanklein.info/node/65 (abgerufen am 09.02.2020).

Goethe, Johann Wolfgang. 1809; 2019. Die Wahlverwandtschaften. Projekt Gutenberg. https://www.gutenberg.org (abgerufen am 09.02.2020).

Richie, Donald. 2020. Versuch über die japanische Ästhetik. Berlin: Matthes & Seitz.

Scheler, Manfred. 1977. Der englische Wortschatz. Grundlagen der Anglistik und Amerikanistik. Berlin: Erich Schmidt.